Der Raum Halle-Leipzig hat in den Jahren nach 1989 eine tief greifende Transformation vollzogen. Während die beiden Städte mit Themen wie Bevölkerungs- und Arbeitsplatzverlust sowie Rückbau kämpfen, hat sich zwischen den Städten ein neuer Siedlungsraum entwickelt. Diese noch frische Stadtschicht ist zum einen Resultat einer Verlagerung des Lokalen – mit der Folge schrumpfender Kernstädte. Andererseits ist sie lokal unabhängig und folgt den Mechanismen eines globalisierten Wirtschaftzusammenhangs. Diese Schicht kann als Ausstülpung überregionaler Infrastruktur begriffen werden, in der markt-relevante Kriterien wie Standortfaktor, Freizeitwert und Anlagerendite bestimmend sind. Sie formt den Raum und soll in Anlehnung an ihre Mitte, nämlich das Schkeuditzer Autobahn-Kreuz, Schkreutz genannt werden. In der vorherrschenden Stadtrepräsentationspolitik hat Schkreutz bisher keine Präsenz, Schkreutz taucht besten Falls vereinzelt auf – als Peripherie unterschiedlicher Zentren. Der „Stadt“ Schkreutz fehlt ihr Bild.
Noch ist die Region geprägt durch den Wettbewerb einzelner Kerne, die für sich als jeweils „komplette“ Stadt werben und suggerieren, dass sie sich unabhängig in einem offenen Landschaftsraum befinden. Dabei wird die Realität und auch Problematik von Schkreutz ausgeblendet – ein viel weitreichenden Logiken folgendes, überregionales urbanes Gefüge, in dem weniger die einzelnen Städte eine Rolle spielen, als die strategischen Gegebenheiten des Autobahnkreuzes, des Flughafens und der Bundesstrassen. In diese Bildpolitik interveniert “Schkreutz. Stadtplan. 1. Auflage” mit dem Ziel die „Stadt“ sichtbar zu machen, sie zum Gegenstand zu machen.
„Schkreutz. Stadtplan. 1. Auflage“ rückt die Peripherie(n) ins Zentrum, arbeitet analog zu den Begrifflichkeiten und Chiffren der gebräuchlichen Stadtplan-Sprache. Ortsnamen basieren auf Schlagworten von in der Region gesichteten Anzeigetafeln und auf Schlüsselbegriffen aus Veröffentlichungen. “Schkreutz. Stadtplan” verfolgt die Aussage: Hier und Dies! ist die Stadt. Die neue „Stadtgrenze“ ist im 5 km Abstand zu den Autobahnen zu finden, in diesem Bereich liegen die Promotoren von Schkreutz: überregionale Logistikbetriebe, Autohersteller, Hotels. Die Autobahn wird entsprechend ihrer Benutzung als Verbindung verschiedener Shoppingcenter zur „Fußgängerzone“. Die Auenlandschaft wird zum freizeit-genutzten „Stadtpark“ und damit zur ersten Adresse von Eigentumsbildung und Wohnträumen. Die alten Städte schließlich sind aus der Schkreutzer Perspektive Ausflugsziele mit historischen Sehenswürdigkeiten und Wochenend-Malls. Schkreutz verursacht eine umfassende Verschiebung der Stadtgliederung: So stellen großmaßstäbliche Einkaufszentren die organisierenden Bezugspunkte dar und ordnen mit ihren zeit- basierten Catchment Areas (Einzugsgebieten) als neue „Verwaltungsbezirke“ den Raum. Schkreutz ist als Logistikstandort und Absatzmarkt eingebunden in einen überörtlichen Zusammenhang und als Anlage- und Investitionsobjekt abhängig von ortsfremden Entscheidungen und Interessen. In diesem Sinne sind die westdeutschen Kapitalzentren und Managementsitze integraler Bestandteil des Schkreutzer Umfeldes.
Diese ortsferne und wirtschaftliche Eindimensionalität von Schkreutz erzeugt Brüche und Konflikte, die sich in dem fragmentierten Erscheinungsbild artikulieren (Möbelmarkt und -lager neben Dorf, Neubaugebiet mit Brach-Mitte, Tankstelle u.ä.), die besonders aber in der lokalen Gebrauchsperspektive manifest werden. Ein explizierter Fall ist die „Ortsmitte“ Neumarkt. Hier dient ein Wartungstunnel unter der A9 den auf Fuß und Rad angewiesenen Bewohnern der vom Einzelhandel verlassenen Dörfer als „Passage“ zum Einkaufszentrum. Man kennt sich, man trifft sich trotz oder wegen der widrigen Umstände. Öffentlichkeit entsteht dort als Nebeneffekt.
“Schkreutz. Stadtplan. 1. Auflage” bildet den übergeordneten Rahmen, in dem die vielen individuellen Geschichten und isolierten Umgehensweisen zu einer Auseinandersetzung mit den spezifischen Logiken einer transformierten Stadt werden, vereinte Bedeutung bekommen, und schließlich politisches Potential entfalten.
Projekttyp: Stadtforschung, Ausstellung und Veröffentlichung
Auftraggeber: Bauhaus Stiftung Dessau im Rahmen des Shrinking Cities Projekts
Team: Sabine Müller, Andreas Quednau, Petr Baletka